Verursacht „Geben“ noch mehr Leid?





»Sie glauben gar nicht, wie glücklich ich bin. Wie gern ich mir meinen Stumpf ansehe« sagt Wolfram Beer (Name geändert). Er hat BIID eine Krankheit, die einen seine Gliedmaßen hassen lässt. Beer hat sich Freiwillig seinen Fuß amputieren lassen. Seine Geschichte erfuhr ich aus dem Artikel der Süddeutschen Zeitung „Der Stumpf“. Ich war ziemlich überrascht, dass es wirklich Menschen gibt, die sich ihre Körperteile wegen einer Krankheit freiwillig entfernen lassen. Dass es noch andere Gründe dafür gibt, war mir 2015 nicht bewusst. Heute weiß ich, dass sich Menschen auch Körperteile entfernen lassen, um mehr Geld zu verdienen. Das Geschäftsmodels, das dahintersteckt heißt Betteln.


Über 413.000 Bettler (stand 2015) leben in Indien und mehr als 800 Millionen Menschen gelten als arm. Es ist also nicht gerade eine Überraschung, dass man in Chennai auf Bettler trifft. Überrascht war ich aber trotzdem nicht wegen den Bettlern, sondern wegen den Spendern. Ich war einfach erstaunt, wie viele Passanten ihr Kleingeld aus den Taschen befördern und es spenden. Ich fragte mich, ob die meisten wohl aus religiösen Gründen betteln oder ob sie spenden, da sie wissen, dass es für die Ärmsten der Armen ansonsten keine Hilfe gibt und betteln die letzte Option ist? Aber bleibt den Bettlern wirklich nichts anderes als um Almosen zu fragen und gibt es für sie wirklich keine Hilfe oder lohnt sich das Betteln einfach?






Diese Worte des chinesischen Philosophen Konfuzius nehme ich als Leitfaden dieses Artikels. Denn einem Bettler Geld zu geben ist nur berechtigt und hilfreich, wenn für den Hilfesuchenden keine andere Aussicht auf eine Verbesserung seiner aktuellen Lebenssituation besteht.

Um dies herauszufinden ist es notwendig, die verschiedenen Arten von Bettlern zu kategorisieren und die Hintergründe für ihre Situation zu analysieren.


Kinder

Kinder fangen nicht freiwillig an zu betteln, sie werden von ihren Eltern oder organisierten Gangs, wie der "Bettel Mafia", von Drogendealern, "Freunden" der Familie und "Freunden" der Kinder durch Gewalt oder deren Androhung dazu gezwungen.

Dass die Familie und „Dritte“ die Kinder zum Betteln nötigen, ist mehr als nur logisch, da jeder, wenn er die Wahl hat, dem Kind ein wenig Kleingeld zusteckt und nicht der erwachsenen Person. Unser größeres Mitleid mit Kindern schafft also erst das Leid! Denn wenn niemand einem Kind sein Kleingeld geben würde, gäbe es auch keine Kinder, die betteln!

Nach dem Prinzip des Marktgleichgewichts steigt sogar die Anzahl der bettelnden Kinder um so mehr an, je mehr Menschen „helfen“ und Geld geben. Es ist in diesen Fällen also paradox zu „spenden“, denn durch diese Art der Hilfe werden nur noch mehr Hilfsbedürftige erschaffen.


Frauen mit Kindern oder Babys

Vor allem an größeren Plätzen, wo viele Menschen zu finden sind, stößt man vermehrt auf bettelnde Frauen mit Kindern auf den Armen. Auch hier handelt es sich oft um ein durchdachtes "business model", da für Frauen mit Kind einfach mehr Geld abfällt als für Frauen ohne Kinder. Dies führt dazu, dass Mütter ihre Kinder tagsüber an Frauen vermieten, welche dann mit ihrem „gemieteten Kind“ Geld erflehen. Eine weit verbreitete Taktik in Delhi ist es z.B. Touristen um Milch für ein Kind zu bitten. Gehen diese darauf ein, führt die Frau den unwissenden Touristen zu einem "zufällig" ausgewählten Shop in der Nähe, in welchem der Reisende eine überteuerte Milchpackung für das Kind kaufen kann. Den Gewinn wird sich der Ladenbesitzer später mit der Bettlerin teilen.


Erwachsene und älter Menschen

Erwachsene und ältere Menschen bitten aus unterschiedlichen Gründen, wie z.B. Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, Auseinandersetzungen mit der Familie oder Krankheiten nach Almosen. Die meisten dieser Probleme sind lösbar und determinieren nicht zum Betteln.


Menschen mit Behinderungen und Kranke

Für Menschen mit Behinderungen gibt es zwar ein Gesetz und Vorteile wie Steuervergünstigungen, doch trotzdem begegnet man auf der Straße Bettlern mit Behinderungen. An dem Gesetz liegt das eher weniger. In Tamil Nadu bekommen Personen mit Behinderungen Zuschüsse für ihre Schulbildung und Weiterbildungen. Arbeitslose Menschen mit Behinderung die einen Bildungsabschluss besitzen, haben Anspruch auf einen Zuschuss von bis zu 1000 Rupees pro Monat. Auch NGOs, die in diesem Gebiet tätig sind werden vom Staat bezuschusst. Im vergangen Jahr hat der Staat Tamil Nadu insgesamt 46618.23 lakh in Rupees für Menschen mit Behinderungen ausgegeben. Hier kann also kein großes Problem erkannt werden. So schön wie auf dem Papier sieht die Lage aber leider nicht aus. Die „Tamil Nadu Association for the Rights of All Types of Differently abled and Caregivers“ beklagt vor kurzem zum Beispiel die Durchführung des Gesetzes. Viele Gelder kommen laut ihr nicht bei den Hilfsbedürftigen an. Aus der Sicht der NGO Udavi ist das größte Problem in der heutigen Zeit die Unwissenheit, viele Menschen mit Behinderungen wissen gar nicht auf was sie eigentlich Anspruch haben.


Letztens traf ich auf einen Bettler mit einer großen offenen mit Fliegen übersäten Wunde an seinem übermäßig geschwollenen Fuß. In Deutschland bin ich noch nie einem Bettler in einer derartigen schlechten Verfassung begegnet. Auf den ersten Blick klingt ein schlechtes Gesundheitssystem als Grund für die Situation wohl am logischsten, doch diese Antwort wird von meiner indischen Koordinatorin nicht unterstützt. Nach ihr hat jeder mit oder ohne Dokumenten die Möglichkeit, sich im staatlichen Krankenhaus versorgen zu lassen. Wenn man trotzdem einem Bettler in schlechten gesundheitlichen Bedingungen begegnen sollte ist es am besten eine lokale NGO oder die Polizei zu informieren. Sie wird sich um die Versorgung des Hilfsbedürftigen kümmern.


Entstellte Menschen

Für die "Bettel-Mafia" sind Erwachsene eher unprofitabel. Da sie im Vergleich zur „Konkurrenz“ einfach nicht ausreichend mitleiderregend erscheinen. Dies ist ein Grund, warum einige absichtlich entstellt werden.

Wie in einem Video von CNN zu sehen ist, geht das Ganze so weit, dass Ärzte Bettlern für 200 Dollar ganze Körperteile amputieren!


Was kann man tun?

Bildung ist der Schlüssel für einen Beruf und eine sichere Zukunft. Deswegen ist Bildung ein sehr wichtiger Punkt, um etwas zu verbessern.

Damit Eltern das Gefühl bekommen, dass sie mehr davon haben, wenn ihr Kind zur Schule geht, muss Bildung attraktiver gemacht werden. Dass Schulen in Indien kostenloses Essen und Kleidung zu verfügen Stellen, ist dabei schon mal ein guter Schritt in die richtige Richtung. Dass Lehrer in Indien eine bessere Ausbildung brauchen und sich der Unterricht verbessern muss, ist leider auch ein Fakt. Kurz zusammengefasst bedeutet das, dass Kinder, die von ihren Eltern nicht auf eine Privatschule geschickt werden, schon mal davon ausgehen können, dass sie ein schlechteres Bildungsniveau und geringere Erfolgschancen im späteren Leben haben werden als Kinder, die das Privileg hatten auf eine Privatschule zu gehen. Kinder auf dem Land müssen mit einem noch schlechteren Bildungsniveau rechnen. Die Regierung hat hier noch viel Verbesserungsarbeit zu leisten. Auf Grund dieser schlechten Bedingungen gibt es NGOs, die versuchen Kindern eine bessere Bildung zu ermöglichen. An diese NGOs zu Spenden ist eine gute Möglichkeit um zu helfen!


NGOs

NGOs spielen eine generelle Rolle bei der Prävention, bei akuten Hilfeleistungen und Rehabilitation von Bettlern.


Prävention

Es ist notwendig, dass NGOs die Öffentlichkeit über all diese Zusammenhänge aufklären, da „irgendwie“ Geld geben nicht wirklich hilft. Dies ist auch gerade vor der religiösen Sichtweise im Hinduismus betrachtet enorm wichtig, denn in Indien geben auffällig viele Menschen Geld, da der Gott Brahma die Gläubigen dazu aufruft zu helfen.

Im Hinduismus ist Helfen aus folgenden Gründen wünschenswert:


- Indem man seinen Mitmenschen hilft, hilft man indirekt Gott, da dieser in jedem und allem

vorhanden ist

- Helfen wird als eine Möglichkeit angesehen seinen Egoismus zu überwinden

- Helfen ist förderlich für das Karma


Dieser Grundsatz des Hinduismus ist in jeder Hinsicht gut, doch wird er falsch umgesetzt.

Bettler sind eine gute Möglichkeit, um „nebenbei“ in seinem Alltag etwas "Gutes" zu tun, ohne viel Aufwand betreiben zu müssen. Dass man damit letztendlich nicht wirklich hilft, wird dabei übersehen. So ist es wichtig, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass Geldgeben allein nicht hilft. Wäre dieses Wissen in der Bevölkerung weit verbreitet, würden die Menschen über andere, bessere Wege helfen.


Bei der medizinischen Versorgung gilt es auch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, denn viele fangen an zu betteln, weil sie krank werden und in der Folge ihren Job verlieren. Einige dieser schlimmen Krankheiten könnten verhindert werden, wenn sie nicht mit traditionellen Behandlungsmethoden kuriert werden würden.

Es ist zum Beispiel üblich Wunden mit Kuhdünger zu bedecken. Auch das Desinfizieren mit Urin ist in ländlichen und ärmeren Gebieten durchaus üblich. Diese Methoden führen zu schlimmeren Infektionen und im schlimmsten Fall zum Verlust von Körperteilen. Über die Folgen dieser Methoden aufzuklären und bessere Methoden aufzuzeigen, könnte vieles verhindern.


Akute Hilfeleistung

Unterkünfte für Straßenkinder, aber auch für ältere, obdachlose Bettler sind extrem wichtig.

So können beide Gruppen in die Gesellschaft integriert werden.

In einer Unterkunft für älter Menschen begegnete ich letztens einem Herrn, der durch Streit mit seiner Familie für einige Zeit auf der Straße lebte und bettelte. Nachdem er in die Unterkunft einer NGO aufgenommen wurde, erholte er sich und fing vor kurzen im Alter von 81 Jahren wieder an zu arbeiten. Was viele Bettler auf der Straße brauchen, ist nur ein Ort, wo sie sich erholen können und wo sie ein wenig unterstützt werden, um dann ihr Leben neu zu beginnen.


Rehabilitation

Viele der Bettler haben durchaus das Potenzial zu arbeiten und sich selbst zu ernähren. Deswegen haben NGOs und die Regierung die Aufgabe, Bettlern eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen und sie auszubilden oder ihnen entsprechend ihren Fähigkeiten einen Job zu vermitteln.

Dass dieses System funktionieren kann, zeigt die Geschichte von Swati Bondia. Als sie 2015 versuchte einem bettelnden Kind nicht durch Geld zu helfen, sondern durch Kleidung und Essen, lehnte das Kind ihre Hilfe ab und verlangte 10 Rupien, weil ihre Mutter es sonst schlagen würde. Swati war schockiert und bat das Kind, sie zu ihrer Mutter zu führen. Diese lebte mit ihrem alkoholsüchtigen Mann und ihrem Kind auf der Straße. Es handelte sich bei der Familie um Migranten, denen niemand vertraute und so bekamen sie keinen Job. Deshalb blieb ihnen nichts anderes übrig als zu Betteln. Erfolglos versuchte Swati in den nächsten Tagen ein Job für die Familie aufzutreiben. Da die Familie handwerkliche Fähigkeiten besaß, kaufte Swati alle nötigen Materialien für die Herstellung der traditionellen Figuren. Diese Kunstwerke verkaufte die Familie nun an der Straße, wo sie früher bettelte. Seit diesem Tag verdient die Familie über 750 Rupien am Tag und das Kind kann zur Schule gehen. ​Beflügelt von diesem Erfolgserlebnis gründete Swati das Unternehmen „Om Shanti Traders“, unter dessen Namen sie Bettlern das Verkaufen von handgefertigten Kunstwerken ermöglicht. Heute nimmt das Unternehmen nicht nur Bettlerfamilien mit Fähigkeiten auf, sondern bildet sie auch aus. Den Kindern wird außerdem eine Schulausbildung ermöglicht. Swati holte so über 1000 Menschen (stand 2015) von der Straße. Ihr Konzept wurde ein Vorbild für ein Projekt der Vereinten Nationen in Kolumbien mit dem Namen "Bottom of the Pyramid challenge".


Regierung

Laut der indischen Verfassung hat der Staat die Aufgabe soziale Rechte, wie das Recht auf Arbeit, Bildung und staatliche Fürsorge, sicherzustellen, sowie soziale Verpflichtungen, wie die allgemeine Steigerung des Lebensstandards und die Schaffung einer gerechten Gesellschaftsordnung.

Bettler sollte es also gar nicht geben und sie sind das Resultat einer versagenden Politik der Regierung.

Um etwas gegen das Problem des Bettelns zu unternehmen, hat der Staat das Betteln in 22 Bundesstaaten verboten. Das klingt nach einem sehr drastischen Schritt, ist aber im Prinzip gar nicht so falsch. Hinter dem Gesetzt steckt nämlich die Tatsache, dass Bettler nur betteln, weil es sich für sie rentiert, sie aber durchaus auch ohne Hilfe von anderen eine andere Tätigkeit ausführen könnten. Wäre diese Voraussetzung gegeben, würde das Gesetzt verhindern, dass Menschen anfangen um Geld zu bitten, nur weil sie zu faul sind anderweitig zu arbeiten. Da diese Voraussetzungen aber nicht immer gegeben sind und die meisten Bettler ohne Hilfe vom Staat oder NGOs nicht in der Lage sind eine andere Tätigkeit auszuführen, hat der Staat auch nicht das Recht Betteln zu verbieten.

Die Bettler, die bei der Ausführung ihres „Handwerks“ erwischt werden, kommen in ein "Workhouse" oder im schlimmsten Fall für mehrere Jahre in ein Gefängnis. Das ist aber kontraproduktiv, denn sie werden dadurch nicht in die Gesellschaft eingegliedert, sondern nur noch mehr von ihr ausgegrenzt. Im Gefängnis kann es außerdem zur Kriminalisierung kommen.


Was kannst du tun?

Eine NGO zu unterstützen ist wohl einer der besten Wege um etwas Gutes zu bewirken. Es wird einige Leser geben, die Bedenken haben, dass es zu wenige NGOs gibt, um allen Bettlern zu helfen. Das stimmt vielleicht im Moment, aber würde jeder das Geld, das er Bettlern gibt an eine NGO spenden, hätten diese nicht nur mehr Einfluss und Möglichkeiten, sondern es würden auch mehr NGOs gegründet werden.


Für Indien-Reisende gibt es auch die Möglichkeit eine App zu nutzen, um zu helfen. Mehr dazu findet man unter: https://yourstory.com/2014/07/helping-faceless/

Wer auf bettelnde Straßenkinder oder kranke Menschen trifft kann auch die Polizei oder lokale NGOs informieren. In Indien gibt es für Straßenkinder außerdem eine staatliche Notfall Nummer.

Weil ich keine NGO bevorzugen will, rate ich nur allen, die nicht wissen, wem sie spenden sollen, folgende Suchmaschinen zu benutzen:


https://www.charitywatch.org/home

https://www.charitynavigator.org


Wichtig ist mir noch, dass kein Geld zu geben nicht gleichbedeutend mit Ignorieren ist. Also, warum nicht einfach das nächste Mal freundlich lächeln und „nein“ sagen, wenn euch jemand um Geld bittet?